„Reicher Mann und armer Mann standen da und sahn sich an.
Und der Arme sagte bleich:
»Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich«.“
Bertolt Brecht
Jeder zweite findet die Einkommensverteilung in der Bundesrepublik Deutschland ungerecht. Die meisten Menschen in Deutschland sprechen nicht gerne über ihr Gehalt und decken über die Höhe ihres Einkommens lieber den Mantel des Schweigens. Es ist zu beobachten, dass Reichtum als erstrebenswert gilt und ein positiver Begriff in der bundesdeutschen Wirklichkeit ist. Ganz anders als sein Gegenteil: die Armut. Armut ist Scham behaftet, Bezieher eines geringen Einkommens sprechen nur ungern über sie. Doch wer ist reich und wer ist arm? Schauen wir auf den Spitzensteuersatz: wir haben dieser Tage erfahren, dass in Deutschland jeder elfte Bürger den Spitzensteuersatz zahlt. Ist nun derjenige, der den Spitzenteuersatz zahlt ein Spitzenverdiener? Der Spitzensteuersatz wird für einen allein stehenden Menschen bei einem zu versteuernden Einkommen bei € 52.152 fällig und beträgt 42%. Hier ist ersichtlich, dass ein gut bezahlter Facharbeiter bereits den Spitzensteuersatz zahlt. Damit wird suggeriert, dass sich mehr Menschen als Spitzenverdiener fühlen, auch wenn sie es nicht sind. Als Spitzenverdiener gelten nach dem Deutschen Institut für Wirtschaft das oberste Prozent der Steuerzahler.
Wer ist nun von Armut gefährdet? Von Armut gefährdet sind Menschen, die über weniger als 60% des mittleren Nettoeinkommens verfügen. Es sind allein lebende Menschen, die monatlich über € 942,00 verfügen; es ist ein Erwachsener mit Kind, der über € 1225,00 verfügt und zwei Erwachsene mit zwei Kindern, die über € 1978,00 verfügen.
Prof. Dr. Stefan Sell, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz, sagt in einer Reportage „Abgehängt! Diezemanns Reisen ins arme Deutschland“, dass die unteren 40 % der Bevölkerung von der Gehaltsentwicklung abgekoppelt werden. Das sind Millionen von Arbeitnehmern wie Verkäuferinnen, Erzieherinnen, Krankenschwester, Pfleger, Fernfahrer. Das sind jene, die knapp oberhalb der Schwelle zur Armutsgrenze liegen. Sie haben deutlich weniger Einkommen als Anfang der 90iger Jahre. Sie werden von der gesellschaftlichen Einkommensentwicklung abgehängt, obwohl sie verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen und sich immer mehr abstrampeln und unter Arbeitserdichtung leiden. Die Betrachtung der Einkommensentwicklung seit 1995 bis 2015 zeigt, dass die unteren 40 % der Einkommensbezieher in diesem Zeitraum einen Lohnverlust bis zu 7 % erleiden mussten. Dies hat zur Folge, dass die meisten von den 40% im Alter mit Armut rechnen müssen und jetzt schon unter einem enormen materiellen Stress stehen. Die oberen 60% hingegen konnten für sich einen Lohnzuwachs von bis zu 10 % verbuchen.
Nur, was hat dies für uns als Kirchengewerkschaft zu bedeuten?
In der Kirchengewerkschaft sind kirchliche, diakonische und caritative Mitarbeiter beschäftigt. Viele diese Mitarbeiter arbeiten nicht in den bestbezahlten Berufen. Wir vertreten eine große Anzahl an Mitgliedern, die auf Grund ihres geringen Lohnes - die häufigste Art des Einkommens - zu den unteren 40% der Bevölkerung zählen.
Der DBSH hat den Satz geprägt, dass nicht die durch das soziale Netz fallen dürfen, die es knüpfen. Mit der Lohnentwicklung seit 1995 findet dies jedoch für einen nicht geringen Teil der Beschäftigten des sozialen Sektors statt.
Als Gewerkschaft muss es uns ein Anliegen sein, den Lohn von Erziehern, Pflegern, Verwaltungsangestellten, Hausmeistern etc. so zu verbessern, dass diese nicht mehr von der gesamtgesellschaftlichen Lohnentwicklung abgekoppelt sind.
Nur wie?
Koexistenz und Kooperation statt Konkurrenz
Als Christen und Gewerkschaftler sind wir der festen Überzeugung, dass die Menschheit nicht in allen Bereichen dem Prinzip des Wettbewerbes folgen darf und wir als Gesellschaft umdenken lernen müssen. Das menschliche Miteinander sollte vielmehr davon geprägt sein, sich gegenseitig zu unterstützen und gemeinsam zu handeln; das heißt, das Handeln an den Prinzipien von Koexistenz und Kooperation auszurichten.
Dies heißt für uns als Kirchengewerkschaft, Kontakte zu anderen Gewerkschaften, Arbeitnehmervertretungen, Berufsverbänden und auch zu den Kirchen mit ihrer Diakonie bzw. Caritas herzustellen. Die letzt genannten sind sowohl Partner in der Gestaltung des Sozialen als auch Dienstgeber und damit Vertreter der Dienstgeberinteressen. – Dies trifft auf die großen Gewerkschaften mit ihren vielen Angestellten natürlich ebenso zu.
Wie können wir Koexistenz und Kooperation gestalten? Der Theologe Martin Buber und der Pädagoge Paulo Freire können uns dazu Impulse geben.
Die Kommunikation mit unseren Gesprächspartnern ist in unseren Augen darauf angewiesen, dass Menschen in einen echten Dialog miteinander eintreten. Für Martin Buber geschieht Begegnung, „wenn alles zurückgelassen wird, was an Vorverständnis mitgebracht wird, wenn alle Reserviertheit aufgegeben wird, wenn man sich auf den anderen einlässt, einen wirklichen Dialog mit ihm führt“. Dies erfordert Offenheit zum Anderen hin. In der Begegnung mit dem Anderen werden sich die Menschen über die eigenen Werte und über die des Anderen bewusst. Auch für den brasilianischen Pädagogen Paulo Freire ist der Mensch ein „Dialogwesen, das mit seinen Mitmenschen über die Umwelt und mit der Umwelt durch den Dialog mit den Mitmenschen vermittelt ist.“ Der Dialog gehört wesentlich zum Menschsein; der Mensch ist nicht nur auf sich selbst bezogen, sondern auf sein Gegenüber, auf die Welt. Darin liegt auch die Fähigkeit des Menschen begründet die veränderbare Welt, in der er sich vorfindet, zu gestalten. Nach Professor Dabisch von der Paulo Freire Kooperation beinhaltet „Dialog (...) ein hohes Maß an Vertrauen in die Umwelt. Dialogisches Verhalten setzt die Subjektwerdung des Menschen voraus. Es beinhaltet die Fähigkeit zur Kompromissbildung und auch die Schwierigkeit, Kritik und unbequeme Fragestellungen auszuhalten. Dialog bedeutet die solidarische Begegnung aller Beteiligten, um die Humanisierung der Welt als menschliche Aufgabe zu definieren“.
Auf dem Weg der Koexistenz und der Kooperation öffnet eine solche Grundhaltung den Blick zum konkreten Anderen hin und zum „thematischen Universum“ (Freire) der Welt; sie unterstützt selbstreflexive und analytische Kompetenz und sie eröffnet Vertrauen. In dieser Grundhaltung werden wir unsere Gesprächspartner weder verschrecken noch überrennen oder als Sündenbock nutzten. Wir würden die gesellschaftlichen Herausforderungen und die zu klärenden Fragen als gemeinsame Angelegenheit aufnehmen und Kompromisse als neue gemeinsame Lösung entdecken.
LV Hessen - Landesvorstand -
Joachim Heinisch
Burkhard Schops